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oder mißfallen; und voll von dieser Idee sprechen sie in dem zuversichtlichsten Tone die seichtesten Urteile, wenn sie in den Werken des Dichters und Malers über einerlei Vorwurf die darin bemerkten Abweichungen voneinander zu Fehlern machen, die sie dem 5 einen oder dem andern, nachdem sie entweder mehr Geschmack an der Dichtkunst oder an der Malerei haben, zur Last legen.

Ja, diese Afterkritik hat zum Teil die Virtuosen1 selbst verführet. Sie hat in der Poesie die Schilderungssucht und in der Malerei die Allegoristerei erzeuget; indem man jene zu einem 10 redenden Gemälde machen wollen, ohne eigentlich zu wissen, was sie malen könne und solle, und diese zu einem stummen Gedichte, ohne überlegt zu haben, in welchem Maße sie allgemeine Begriffe ausdrücken könne, ohne sich von ihrer Bestimmung zu entfernen und zu einer willkürlichen Schriftart2 zu werden. 15 Diesem falschen Geschmacke und jenen ungegründeten Urteilen entgegenzuarbeiten, ist die vornehmste Absicht folgender Auffäße.

Sie sind zufälligerweise entstanden und mehr nach der Folge meiner Lektüre als durch die methodische Entwickelung 20 allgemeiner Grundsäße angewachsen. Es sind also mehr unordentliche Collectanea zu einem Buche als ein Buch.

Doch schmeichle ich mir, daß sie auch als solche nicht ganz zu verachten sein werden. An systematischen Büchern haben wir Deutschen überhaupt keinen Mangel. Aus ein paar an25 genommenen Worterklärungen in der schönsten Ordnung alles, was wir nur wollen, herzuleiten, darauf verstehen wir uns trog3 einer Nation in der Welt.

Baumgarten bekannte, einen großen Teil der Beispiele in seiner Ästhetik" Gesners Wörterbuche 5 schuldig zu sein. Wenn 30 mein Räsonnement nicht so bündig ist als das Baumgartensche, so werden doch meine Beispiele mehr nach der Quelle schmecken.

Da ich von dem Laokoon gleichsam aussettes und mehrmals

1 Die Meister in irgendeiner Kunst. 2 Ausdrucksweise mit Hilfe des Pinsels bzw. der Feder. 3 So gut wie irgendeine Nation. 4 Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-62), Professor in Halle, später in Frankfurt a. D., Begründer der Wissenschaft der Ästhetik (,,Aesthetica", Frankfurt a. D. 1750–58, 2 Bde.). 5 „Novus linguae et eruditionis latinae thesaurus" (Leipzig 1749) von Johann Matthias Gesner (1691-1761). 6 Ausging.

auf ihn zurückkomme, so habe ich ihm auch einen Anteil an der Aufschrift lassen wollen. Andere kleine Ausschweisungen1 über verschiedene Punkte der alten Kunstgeschichte tragen weniger zu meiner Absicht bei, und sie stehen nur da, weil ich ihnen niemals einen bessern Platz zu geben hoffen kann.

Noch erinnere ich, daß ich unter dem Namen der Malerei die bildenden Künste überhaupt begreife; so wie ich nicht dafür stehe, daß ich nicht unter dem Namen der Poesie auch auf die übrigen Künste, deren Nachahmung fortschreitend ist, einige Rücksicht nehmen dürfte.

I.

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Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke in der Malerei und Bildhauerkunst seßet Herr Windelmann in eine edele Einfalt und stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. „So wie die Tiefe des Meeres“, 15 sagt er*, „allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag auch noch so wüten, ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesezte Seele.

„Diese Seele schildert sich in dem Gesichte des Laokoons, und nicht in dem Gesichte allein, bei dem heftigsten Leiden. 20 Der Schmerz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdecket, und den man ganz allein, ohne das Gesicht und andere Teile zu betrachten, an dem schmerzlich eingezogenen Unterleibe beinahe selbst zu empfinden glaubt; dieser Schmerz, sage ich, äußert sich dennoch mit keiner Wut in dem Gesichte 25 und in der ganzen Stellung. Er erhebt kein schreckliches Geschrei, wie Virgil von seinem Laokoon singet; die Öffnung des Mundes gestattet es nicht: es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen, wie es Sadolet beschreibet3. Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele sind durch den ganzen Bau der Figur 30

* „Von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst", S. 21, 22.2

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1 Abschweifungen. - 2 Die Erstlingsschrift Windelmanns (Dresden u. Leipzig 1754). Leffing zitiert nach der zweiten Auflage von 1756. 3 Vgl. Abschnitt VI (S. 65 dieses Bandes, Z. 5 ff.).

mit gleicher Stärke ausgeteilet und gleichsam abgewogen. Laotoon leidet, aber er leidet wie des Sophokles Philoktet: sein Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir wünschten, wie dieser große Mann das Elend ertragen zu können.

5 „Der Ausdruck einer so großen Seele geht weit über die Bildung der schönen Natur. Der Künstler mußte die Stärke des Geistes in sich selbst fühlen, welche er seinem Marmor einprägte. Griechenland hatte Künstler und Weltweise in einer Person, und mehr als einen Metrodor1. Die Weisheit reichte 10 der Kunst die Hand und blies den Figuren derselben mehr als gemeine Seelen ein“ usw.

Die Bemerkung, welche hier zum Grunde liegt, daß der Schmerz sich in dem Gesichte des Laokoon mit derjenigen Wut nicht zeige, welche man bei der Heftigkeit desselben vermuten 15 sollte, ist vollkommen richtig. Auch das ist unstreitig, daß eben hierin, wo ein Halbkenner den Künstler unter der Natur geblieben zu sein, das wahre Pathetische des Schmerzes nicht erreicht zu haben, urteilen dürfte 2; daß, sage ich, eben hierin die Weisheit desselben ganz besonders hervorleuchtet.

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Nur in dem Grunde, welchen Herr Winckelmann dieser Weisheit gibt, in der Algemeinheit der Regel, die er aus diesem Grunde herleitet, wage ich es, anderer Meinung zu sein.

Ich bekenne, daß der mißbilligende Seitenblick, welchen er auf den Virgil wirft, mich zuerst stußig gemacht hat, und nächst25 dem die Vergleichung mit dem Philoktet. Von hier will ich ausgehen und meine Gedanken in eben der Ordnung niederschreiben, in welcher sie sich bei mir entwickelt.

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„Laokoon leidet wie des Sophokles Philoktet." Wie leidet dieser? Es ist sonderbar, daß sein Leiden so verschiedene Ein30 drücke bei uns zurückgelassen. — Die Klagen, das Geschrei, die wilden Verwünschungen, mit welchen sein Schmerz das Lager erfüllte und alle Opfer, alle heilige Handlungen störte, erschollen nicht minder schrecklich durch das öde Eiland, und sie waren es, die ihn dahin verbannten. Welche Töne des Unmuts,

1 Griechischer Maler und Philosoph des 2. Jahrhunderts v. Chr. Konstruktion des Sazes nach der Art des lat. Accusativus cum infinitivo.

2 Die

des Jammers, der Verzweiflung, von welchen auch der Dichter in der Nachahmung das Theater durchhallen ließ! - Man hat den dritten Aufzug dieses Stücks ungleich kürzer als die übrigen gefunden. Hieraus sieht man, sagen die Kunstrichter*, daß es den Mten um die gleiche Länge der Aufzüge wenig zu tun ge- 5 wesen. Das glaube ich auch; aber ich wollte mich desfalls lieber auf ein ander Exempel gründen als auf dieses. Die jammervollen Ausrufungen, das Winseln, die abgebrochenen å, å, φεν, ἀτατται, ώ μοι, μοι! sie gangen 3eilen boller παπα, лалa2, aus welchen dieser Aufzug bestehet, und die mit ganz 10 andern Dehnungen und Absehungen deklamieret werden mußten, als bei einer zusammenhangenden Rede nötig sind, haben in der Vorstellung diesen Aufzug ohne Zweifel ziemlich ebensolange dauren lassen als die andern. Er scheinet dem Leser weit kürzer auf dem Papiere, als er den Zuhörern wird vor- 15 gekommen sein.

Schreien ist der natürliche Ausdruck des körperlichen Schmerzes. Homers verwundete Krieger fallen nicht selten mit Geschrei zu Boden. Die gerißte Venus schreiet laut**; nicht um sie durch dieses Geschrei als die weichliche Göttin der Wollust 20 zu schildern, vielmehr um der leidenden Natur ihr Recht zu geben. Denn selbst der eherne Mars, als er die Lanze des Diomedes fühlet, schreiet so gräßlich, als schrieen zehntausend wütende Krieger zugleich, daß beide Heere sich entsezen***.

So weit auch Homer sonst seine Helden über die mensch- 25 liche Natur erhebt, so treu bleiben sie ihr doch stets, wenn es auf das Gefühl der Schmerzen und Beleidigungen, wenn es auf die Außerung dieses Gefühls durch Schreien oder durch Tränen oder durch Scheltworte ankömmt. Nach ihren Taten sind es Geschöpfe höherer Art, nach ihren Empfindungen wahre Menschen. 30 Ich weiß es, wir feinern Europäer einer flügern Nachwelt wissen über unsern Mund und über unsere Augen besser

* Brumoy, Theat. des Grecs 1, T. II. p. 89. ** Iliad. E v. 343. Η δε μεγα ἰαχουσα -84 *** Iliad. E v. 859.

1 Pierre Brumoy (1688-1742) in seinem „,Théâtre des Grecs" (Paris 1730). - 2 Die griechischen Worte bezeichnen Jammertöne höchsten Schmerzes, die Philoftet ausstößt. 9,,Sie aber laut schreiend

zu herrschen. Höflichkeit und Anstand verbieten Geschrei und Tränen. Die tätige Tapferkeit des ersten rauhen Weltalters hat sich bei uns in eine leidende verwandelt. Doch selbst unsere Ureltern waren in dieser größer als in jener. Aber unsere 5 Ureltern waren Barbaren. Alle Schmerzen verbeißen, dem Streiche des Todes mit unverwandtem Auge entgegensehen, unter den Bissen der Nattern lachend sterben, weder seine Sünde noch den Verlust seines liebsten Freundes beweinen, sind Züge des alten nordischen Heldenmuts*. Palnatoko1 gab seinen Joms10 burgern das Gesez, nichts zu fürchten und das Wort „Furcht“ auch nicht einmal zu nennen.

Nicht so der Grieche! Er fühlte und furchte sich; er äußerte seine Schmerzen und seinen Kummer; er schämte sich keiner der menschlichen Schwachheiten; keine mußte ihn aber auf dem Wege 15 nach Ehre und von Erfüllung seiner Pflicht zurückhalten. Was bei dem Barbaren aus Wildheit und Verhärtung entsprang, das wirkten bei ihm Grundsäße. Bei ihm war der Heroismus wie die verborgenen Funken im Kiesel, die ruhig schlafen, solange keine äußere Gewalt sie wecket, und dem Steine weder seine 20 Klarheit noch seine Kälte nehmen. Bei dem Barbaren war der Heroismus eine helle fressende Flamme, die immer tobte und jede andere gute Eigenschaft in ihm verzehrte, wenigstens schwärzte. -Wenn Homer die Trojaner mit wildem Geschrei, die Griechen hingegen in entschloßner Stille zur Schlacht führet, 25 so merken die Ausleger sehr wohl an, daß der Dichter hierdurch jene als Barbaren, diese als gesittete Völker schildern wollen. Mich wundert, daß sie an einer andern Stelle eine ähnliche charakteristische Entgegenseßung nicht bemerket haben**. Die feindlichen Heere haben einen Waffenstillestand getroffen; sie 30 sind mit Verbrennung ihrer Toten beschäftiget, welches auf beiden Teilen nicht ohne heiße Tränen abgehet: danova dɛqua XεovτES2. Über Priamus verbietet seinen Trojanern zu weinen:

*Th. Bartholinus de causis contemptae a Danis adhuc gentilibus mortis, cap. I. ** Iliad. H v. 421.

1 Der dänische Historiker Saro Grammaticus erzählt von dem Sagenhelden Palnotoke, der die Seeräuberstadt Jomsburg an der pommerschen Ostseeküste gründete. ,,Heiße Tränen vergießend."

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