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poetischen Werthes zu geben, so sage ich getrost mit Horaz: habent sua fata libelli. Das blühende Feld der griechischen Poesie ist solchergestalt bearbeitet, dass man schwerlich einen Dichter finden würde, der nicht mit Sorgfalt, ja sogar mit Liebe, gewürdigt und beleuchtet worden wäre; Nonnos allein trägt die Schuld seines Zeitalters; sein Gedicht ist seit Jahr-hunderten dazu verdammt, eine von Staub und Rost bedeckte Polterkammer zu sein, wo der Zutritt nur etwa den eifrigsten Mythographen erlaubt war. Es wird schwer, etliche wenige zu nennen, die ihn wegen seiner Dichtung früher gelesen hätten; noch schwerer Einen, der kühn genug war, öffentlich zu behaupten, dass Nonnos wirklich ein Dichter, im vollen Sinne des Worts, gewesen ist. Man rechne noch dazu den äusserst verdorbenen Zustand des Textes und den vollkommenen Mangel an Ausgaben! (1).

So war die traurige Lage der Dinge, als vor wenigen Jahren eine günstigere Ansicht von Nonnos sich zu verbreiten anfing. Diese scheint täglich mehr Freunde unter den Kennern des Geistes und der Sprache der Griechen zu gewinnen. Ich habe es gewagt, mich schon früher zur kleinen Zahl derer zu bekennen, welche, abgerechnet die Sünden des Zeitalters und vielleicht die der eignen falschen Manier, doch in dem Dichter von Panopolis das os magna sonans erkennen wollen. Um aber Nonnos zu geniessen, muss man auf alle vorgefasste Meinungen, auf alle streng bestimmte Ansichten, auf alle sogenannte Kunsturtheile, die zum Schlendrian der Schulpoetik gehören, Verzicht thun. Die beste Rechtfertigung des verkannten Dichters liegt in der nähern Bekanntschaft mit seinem Werke, und diese wird hoffentlich durch die Ausgabe des Hrn. Professor Gräfe befördert werden. Ich meinerscits hatte mir vorgenommen, den Dichter in einer Reihe seiner eignen Bilder erscheinen zu lassen. Sollte diese kurzgefasste Nonnische Anthologie etliche liberalere Ansichten erwecken, so ist mein

Zweck erreicht. Vielleicht haben übrigens die Verehrer der griechischen Poesie noch einen andern Grund zur milderen Beurtheilung des Dichters von Panopolis, wenn sie bedenken, dass mit seinen letzten Tönen auch die letzten Anklänge der alten Poesie verhallen. Es ist der wehmüthige Abschied eines verschwindenden Freundes; seine letzten Worte möchten wir gern festhalten, weil sie uns doppelt theuer und doppelt lieblich erscheinen.

(1) Die Anzahl der Freunde des Nonnos in der Litteratur-Geschichte ist sehr gering. Unter den frühern sind besonders zu achten Politianus, Muretus, Heinsius, Falkenburg und Joseph Scaliger; die drei ersten vorzügliche Dichter in den classischen Sprachen. Von der kunst-historischen Seite benutzte ihn zuerst Winkelmann, später und noch tiefer Zoëga. Creuzer hat seine mythographische Wichtigkeit oft und mit vielem Scharfsinn gezeigt. G. Herrmann lobte ihn seines schönen Versbaues wegen; und hieher gehören auch Spitzner's scharfsinnige Bemerkungen.

S XXIV.

Mit Nonnos endete die Poesie der Griechen; wir haben ihr Scheiden beleuchtet. Hier am Ziele steht der Genius des Alterthums, gleich dem schönen trauernden Genius der alten Plastik, mit gekröntem Haupte und gesenkter Fackel; und doch waren ihre letzten Strahlen noch glühend und farbig! Die Poesie der Griechen ist die merkwürdigste Erscheinung der gesammten Civilisation, und der Geist der Alten bleibt, selbst in seinem Sinken, unerreichbar hoch.

ΔΥΟΜΕΝΟΣ ΓΑΡ, ΟΜΩΣ ΗΛΙΟΣ ΕΣΤΙΝ ΕΤΙ

UEBER

DAS VOR-HOMERISCHE ZEITALTER.

EIN ANHANG ZU DEN BRIEFEN UEBER

HOMER UND HESIOD,

VON

GOTTFRIED HERMANN UND FRIEDRICH CREUZER.

Sono infinite vie e differente
E quel che si ricereo solo è une.
Poesie di Lorenzo de Medici.

DÉDIÉ

G. HERMANN et F. CREUZER.

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