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eine Art von Gemeinschaft und moralischer Solidarität. Dadurch, dass zwei Personen die Idee des gemeinsamen Wohles haben, bilden beide moralisch nur eine Person. Durch die Thatsache der moralischen Association zweier Personen sind beide, sei es wirklich oder sei es stillschweigend, ein Verhältnis des Versprechens eingegangen. Die gegenseitige Beziehung heisst bei dem einen Recht oder Credit und bei dem andern Pflicht oder Debet. Soweit jedem etwas versprochen worden ist, hat er ein Credit, ein zu beanspruchendes Recht an den andern, soweit jeder ein Versprechen gegeben hat, steht er im Verhältnisse des Debet zu dem andern. Das Credit des einen macht das Debet des andern aus und auch umgekehrt. Diese Beziehungen des Rechts und der Pflicht bilden die Gerechtigkeit. Die tiefere Bedeutung der Gerechtigkeit besteht indes darin, dass, „anstatt die Zwecke anderer den eigenen unterzuordnen, das moralische Agens die andere Person als sich gleich betrachtet und die Zwecke der andern Person nicht unterschätzt." 1) Dies Gerechtigkeitsprincip enthält als notwendige Folge das Verbot, sich anderer als Mittel zu bedienen, um eigene Zwecke zu erreichen. Es handelt sich nun darum, die Beziehungen von zwei Personen zu einander zu verallgemeinern und sie auf die ganze menschliche Gesellschaft auszudehnen. Die höchste moralische Forderung wird darin bestehen, dieselbe Gesinnung wie gegen sich selbst auch gegen andere zu hegen und zu bethätigen. Dies besagt nichts anderes als die Lehre, in Bezug auf welche schon die alten Moralisten der verschiedensten Nationen übereinstimmten: alteri ne facies etc.

Das positive Recht hat nach Renouvier nur unter den geschichtlichen Bedingungen moralischen Wert. Kant behauptet, dass man dem kategorischen Imperativ sich zu opfern selbst verpflichtet sei, wenn man hinters Licht geführt worden wäre. Dieser Imperatif verlangt nach Renouvier eine Selbstaufopferung nur in einer moralischen Gemeinschaft, von welcher man gegenseitige Verzichtleistung erwarten kann. Die Moralität ist es sich gewissermassen selbst schuldig, politisch vorzugehen oder besser gesagt, praktisch zu sein. Renouvier setzt an Stelle der rein formalen Moral Kants die Anschauung einer solidarischen Gemeinschaft, in welcher der Gerechte den Gewaltthätigkeiten der Feinde ausgesetzt ist. Es ist Thatsache, dass in der wirklichen und historischen Welt die Gerechtigkeit ihren eigentlichen Charakter einbüsst. Der Mensch sündigt und verdirbt, er

1) Science de la morale, Bd. I, 82.

veranlasst, dass andere sündigen und auf diese Weise verderben. Die verdorbenen Menschen verderben die Gesellschaft, welche ihrerseits wieder die Menschen verdirbt. In einem auf solche Weise konstituierten socialen Milieu giebt es, wenn es erlaubt ist es so zu benennen, eine gewisse praktische Moral, ein herkömmliches Betrug und Gewalt befehlendes Gesetz.... Soll man es sich vielleicht gefallen lassen, dass die Ungerechtigkeit des Einen vollständig über die Gerechtigkeit des Andern triumphiere und dass der Gerechte noch dazu gebracht werde, seinen Ueberrock herzugeben, nachdem er schon seines Mantels beraubt worden. So kommt man denn zu Beziehungen, welche noch immer auf den Namen Gerechtigkeit Anspruch machen können, es entwickelt sich nämlich eine Art Kriegsrecht, welches immerhin von dem reinen Recht, welches nur den Frieden voraussetzt und ihn verlangt, sehr verschieden ist.") Wenn der Gerechte, statt von biederen, treuen Genossen umgeben zu sein, sich Feinden oder Lügnern gegenübersicht, die die Bedingungen der Moralität nicht achten, dann ist er nach Renouvier durch die Pflicht der persönlichen Erhaltung im Besitze eines rechtmässigen Verteidigungsrechtes. Aus diesem Zustande entstehen die Klagen, die Debatten, die Streitigkeiten und schliesslich auch die Anwendung von Betrug und Gewalt. „Jeder giebt, um was es sich auch handeln mag, so wenig als er kann, indem er glaubt weniger empfangen zu haben als ihm eigentlich zukäme oder indem er schon erwartet, weniger zu empfangen, und jeder verlangt so viel als möglich. um jedenfalls Deckung zu haben. So spitzt sich die Situation bis zum vollständigen Bruch zu, der zuweilen einen vollständigen Kriegszustand hervorbringt, zuweilen aber die Organisation eines heimlichen Kampfes veranlasst, der den Anschein der Ordnung und des Friedens hat." 2) So wird man denn genötigt. Regierungen einzusetzen und eine gewisse Zwangsgerechtigkeit zu schaffen. Daher die Notwendigkeit der Gesetze, der einschränkenden Vorschriften, welche den Umständen angepasst sind. Der Bösewicht wird der Frucht seines Verbrechens beraubt und durch Anwendung von Strafe daran gehindert in Zukunft zu schaden. Die Strafe enthält zwei Elemente, erstens Schmerz und zweitens Schande. Jede Strafe ist mehr oder minder Auferlegung irgend eines Schmerzes. Die Schande besteht ursprünglich in dem Bewusstsein der Unwürdigkeit, welche in der 1) Science de la morale, Bd. I, 310/12.

2) Science de la morale, Bd. I, 330,31.

Verübung einer strafbaren Handlung liegt. Tadel allein verursacht keinen materiellen Schmerz und kann deshalb nur auf solche Menschen wirken, welche Achtung für ihre Würde oder wenigstens für die Meinung anderer haben. Da bei vielen Menschen dieses Bewusstsein allein zu schwach sein würde um die Ausübung gesetzwidriger Handlungen zu hindern, so muss unter solchen Umständen Bestrafung eintreten, um so ein schlechtes Verhalten als nicht menschenwürdig zu brandmarken. Alle diese Beziehungen des Kriegszustandes und Zwangsrechts gehören mit zu dem Begriff Gerechtigkeit.

Nicht genug kann Renouvier die unmoralische und verderbliche Meinung geisseln, nach welcher das Wahre und Rechte dem Wechsel der Zeiten unterworfen sei. In Deutschland die Philosophie eines Schelling und Hegel, in Frankreich der Saint-Simonismus und andere Schulen haben die Welt überzeugen wollen, dass das, was zu einer Epoche wahr oder falsch, gerecht oder ungerecht sei, zu einer andern Epoche sich vielleicht gerade in das Gegenteil verwandle. Die Erde und deren Bewohner haben im Laufe der Jahrtausende so vielfache und durchgreifende Veränderungen erfahren, dass sehr vieles, was früher von denselben wahr gewesen, gegenwärtig scheinbar nicht mehr wahr ist. Die Anhänger dieser sogenannten flüssigen Wahrheit glauben nun, dass die Wahrheit sich selbst geändert habe. In Wirklichkeit hat sich aber die Natur nicht geändert, sondern ist sich selbst gleichgeblieben. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die Dinge selbst unveränderlich sind und bloss deren Komplexe und Verhältnisse wechseln. Ein „absolutes Werden" wäre eine Veränderung ohne Ursache, also die Leugnung aller Ordnung und Gesetzmässigkeit. Absolutes Werden und Kausalitätsgesetz würden sich gegenseitig ausschliessen. Die Sophisten und die Skeptiker haben stets den festen Standpunkt der Gerechtigkeit und die Existenz eines konstanten Ideals der natürlichen Moral verneint. Heute, klagt Renouvier, thut man dasselbe und will aus dieser unbestimmten Anhäufung von relativen Irrtümern ein wachsendes Uebel und eine wachsende Wahrheit hervorgehen lassen. Auf diese Weise vollzieht sich die Moral ganz von selbst und fortschreitend rechtfertigt sich alles ganz ohne unser Zuthun. Das geschwundene Uebel rechtfertigt sich, denn es wurde zu etwas Gutem; das noch existierende Uebel rechtfertigt sich, denn es wird das Gute aus ihm entspringen. Der Evolutionismus glaubt an den

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Fortschritt wie an ein Dogma. Ein solches Verfahren fälscht die wahren Begriffe der Geschichte und hat den Ruin der Moral zur Folge. Wenn alles wechselt, so haben wir keine Norm für Gutes und Böses. Welchen Wert hat noch das moralische Gesetz, wenn die Geschichte nur einen einzigen Weg, den des notwendigen Fortschritts, verfolgen muss? Eine Theorie, die mit dem Massstab des Erfolges, statt mit dem der Gerechtigkeit die Ereignisse misst, kann nicht moralisch sein. Der Fortschritt ist kein mechanisches und physisches Gesetz der Geschichte, welches die Menschen nolens volens zu einem bestimmten Ziele führt. Sowohl der Optimismus, der den Fortschritt als notwendig bezeichnet, als auch der Pessimismus, der den Fortschritt für unmöglich hält, sind nach dem Kriticismus falsche Theorien. Wir müssen entschieden, meint Renouvier, in die Philosophie der Geschichte den Begriff der Freiheit einführen. Es genügt nicht, sich zu befleissigen, die Geschichte aus ihren wahren Quellen ohne besondern Systemsgeist herauszubegreifen, wir müssen sie auch im Lichte der Moral studieren. An dem Tage, an dem die Willensfreiheit Gegenstand eines ernsten und tiefen Glaubens sein wird, wird man erkennen, dass es ebenso widersinnig wäre, die Ereignisse und den Lauf der Geschichte erklären zu wollen, ohne als wesentliche Faktoren die Beobachtung resp. Uebertretung des moralischen Gesetzes zu betrachten, als es absurd erscheint, wollte man die, Theorie eines Planeten aufstellen, indem man den Einfluss aller möglichen Anziehungskräfte berechnet, die Kraft der Sonne aber nicht berücksichtigt." Die sogenannte Philosophie der Geschichte zielt nur darauf hin, die an dem Menschen zur Ausführung kommenden Handlungen zu analysieren und deren Gesetze aufzudecken; sie muss sich aber, meint Renouvier, auch mit dem Einfluss des mehr oder minder reinen oder verderbten moralischen Ideals beschäftigen, welches stets gegenwärtig ist und mitwirkt. Wenn wir im Lichte der Moral die Geschichte zu begreifen versuchen, so werden wir zu einem Gesetze kommen, welches die sogenannte Philosophie der Geschichte nicht ahnt, nämlich zum Gesetz der politischen und socialen Veränderungen unter den Völkern, welche Veränderungen verhängnisvolle Folgen der verschiedenen möglichen. Veränderungen des moralischen Ideals sind.

Nach dem Kriticismus lässt sich auch der Ursprung des Uebels in der Welt erklären. Hätte Leibniz mit seiner Behauptung Recht, dass das Uebel ein notwendiger Bestandteil der besten der möglichen Welten

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sei, so könnte man nicht umhin, Gott als den Urheber des Uebels zu bezeichnen. Der Verbrecher könnte sich dann damit entschuldigen, dass in den ewigen Beschlüssen seiner prästabilierten Harmonie die ausgeübte That als „das Beste" befunden worden sei und er nur die göttlichen Pläne ausgeführt habe. Man muss vielmehr die Ansicht vertreten, dass durch die That des freihandelnden Geschöpfes das Uebel in die ganz vollkommen geschaffene Welt gebracht wurde. Wenn wir die Dinge zurückverfolgen, so müssen wir einsehen, dass es vor der Natur noch eine Natur gab, in welcher das Uebel noch nicht existieren konnte." Die phaenomenale Welt hat einen ersten Anfang gehabt. Man widerspricht keineswegs dem wahren Princip der Kausalität, vielmehr wendet man es an, wenn man in seiner ganzen Kraft und logischen Einfachheit die These von der ersten Ursache, der keine Ursache vorangeht", aufstellt. Die Schwierigkeit, die zu überwinden ist, besteht darin, dass wir uns nicht von der Gewohnheit leiten lassen dürfen, die allerdings bei der Erfahrung, aber auch nur hier, sehr gerechtfertigt ist.") Wir sind gewohnt, überall nach der Ursache der Ursache zu forschen, ohne für dieses Zurückgehen eine andere Grenze. zu kennen als unsere Unwissenheit. „Aber wenn es sich um den ersten Anfang handelt, schliesst die Logik nach hinten die Kette und setzt eine Grenze fest, die man anerkennen sollte." 2) Es hat auch notwendigerweise einen ersten Menschen gegeben. Renouvier zeigt, dass selbst wenn die transformistische Lehre bewiesen wäre, diese Behauptung doch unerschütterlich fest stehen würde. Gesetzt selbst den Fall, dass der Vorfahr des Menschen ein ungeschliffener Anthropoïd, dass er nur ein Tier in Menschengestalt gewesen sei, soviel steht fest: sobald dies Wesen zum erstenmal ein moralisches Gefühl hatte, war es ein Mensch in Tiergestalt und nur mit diesem haben wir zu thun. Dieser erste moralische Akt muss stattgefunden haben. Wenn auch der erste Schritt in einer neuen Richtung unmerklich vor sich geht, so ist es nichtsdestoweniger ein erster Schritt, der eine ganze Vergangenheit aufgiebt und eine Zukunft beginnt. Es liegt ja im Charakter der Anfänge, dass sie durch ihre Kleinheit der Forschung entgehen. Vergebens schwächt der Transformismus die anfänglichen Unterschiede ab, er vermag sie nicht zu verneinen, sondern wird stets zugeben müssen, dass verschiedene Dinge auf

1) La nouvelle monadologie, p. 150.
2) La nouvelle monadologie, p. 150.

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