Page images
PDF
EPUB

welchen jene verwerfenden Urteile erfolgten, so weit es mir gegeben war, mich vertiefte, desto beharrlicher blieb jener Zweifel. Und doch schien es mir unglaublich, dass Kant, von dem Alle ausgehen wollen. anders, im Grunde und Wesen anders verstanden werden könnte, als die stimmführenden Männer vom Fache ihn lehren und deuten." Auf diese Weise kam Cohen dazu, neue Gründe für den Transscendentalismus zu erbringen, welche neue Einwände heraus

fordern.

Es sei bemerkt, dass sogar der treffliche Kritiker des Transscendentalismus, der verstorbene E. Laas, dessen Werken 1) wir in vieler Hinsicht verpflichtet sind, nicht immer auf die neue Position Cohens eingeht, was wohl seinen Grund darin haben mag, dass Laas ihn fast ausschliesslich als Interpreten und Apologeten Kants auffasst und ihm nur insofern Rechnung trägt, als er im Rahmen einer Kantkritik gelegentlich mitgetroffen werden kann. Wir werden aber sehen, dass eine solche Identifizierung nicht recht angebracht ist.

Allerdings giebt es, abgesehen von Nebensächlichkeiten, keinen Satz in der Cohenschen Transscendentalphilosophie, der dem Keime und der Entwickelungstendenz nach nicht bei Kant vorhanden gewesen wäre. Der Schwerpunkt der Kantischen Transscendentalphilosophie ist aber von Cohen merklich verschoben worden; dieses ist die ihm eigene Leistung, welche die Kritik in erster Linie zu beachten hat.

1) Idealismus und Positivismus » B. 1–3. «Kants Analogien der Erfahrung.

Erstes Kapitel.

Die Weiterbildung des Kantischen Transscendentalismus.

1.

,Wie eine geschlagene Armee sich nach einem festen Punkte umsieht, bei welchem sie hofft, sich wieder sammeln und ordnen zu können, so hörte man schon allenthalben in philosophischen Kreisen die Parole, auf Kant zurückzugehen." Diese bekannte Stelle aus Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus") charakterisiert uns den Zustand der Philosophie in Deutschland vor etwa vier Dezennien, und auch heute, so will es scheinen, erleben wir wieder eine Art Rückkehr zu Kant. Namentlich in den Kreisen des geschichtsphilosophischen Materialismus sehen wir eine derartige Bewegung sich geltend machen. Eine geschlagene oder sich geschlagen fühlende Armee blickt auf Kant hin als auf einen festen Punkt, bei dem man sich wieder ordnen und sammeln kann.) Die Motive solcher Sehnsucht nach Kant sind in beiden Fällen ähnlicher, aber doch nicht gleicher Natur. Damals galt es die Auflösung der „Begriffsromantik", des Fichte-Schelling-Hegelschen Idealismus, der dem Anstürmen der empirischen Naturwissenschaften unter Anleitung des Materialismus nicht Stand halten konnte, heute fühlt sich der Materialismus selbst bedroht und zwar ebenfalls von den empirischen Naturwissenschaften, welche gegen ihr damaliges und seitheriges philosophisches Prinzip zu revoltieren beginnen.

1) 5. Aufl. (1896) Band II, S. 1.

2) Vergleiche die Artikel von Ed. Bernstein und seines Gegners G. Plechanoff in der Neuen Zeit », Nr. 34 und 39, XVI. Jahrgang, Band II; und vergleiche ferner Ludwig Woltmann System des moralischen Bewusstseins mit besonderer Darlegung des Verhältnisses der krit. Phil. zu Darwinismus und Socialismus. (Düsseldorf 1898.)

Wollte man nun aus diesen beiden Rückzugslinien schliessen. dass der Kritizismus Kants der letzte und sichere Zufluchtsort der Philosophie sei, sobald ihre metaphysischen Grundlagen, seien es idealistische, seien es materialistische, ins Wanken geraten, so hiesse das die Thatsächlichkeit verkennen und den Wert des Sammelpunktes überschätzen. Ein System, welches dem philosophischen Denken mehr als eine temporäre Zufluchtstätte bieten soll, müsste nicht wie das Kantische, so ganz des einheitlichen Standpunktes entbehren, müsste nicht eine Verbindung vieler, teils einander entgegengesetzter, philosophischer Richtungen sein, welche nur mit Mühe sich die Wage halten und ein höchst labiles Gleichgewicht bewahren. Kaum eine wichtige Richtung giebt es in der Philosophie, welche nicht als Motiv in dem mit unerschöpflichem Fleisse und mit genialer Architektonik aufgeführten Systeme Kants mitklingt.

Wenn wir uns die wichtigsten dieser mitklingenden Richtungen vergegenwärtigen wollen, so stossen wir zunächst auf die Kritik des naïven Realismus, der die Dinge und die Erscheinungen der Natur so hinnimmt, wie sie der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung und dem primitiven, halbbewussten Denken gegeben sind. In dieser Richtung ist die Kantische Philosophie Bundesgenossin der realen Wissenschaft, welche die einheitlich scheinenden Dinge in Atomkomplexe, die Töne und die Farben in Luft- und Ätherschwingungen, die willkürlichen Handlungen und zufälligen Geschehnisse in kausaldeterminierte Prozesse, die Bewegung der Sonne um die Erde in die der Erde um die Sonne verwandelt hat, und welche den unentrinnbaren Zeugnissen der Sinne die total entgegengesetzten Resultate des wissenschaftlichen Calcüls vorhält.

Bei dieser Bekämpfung des sogenannten „gesunden Menschenverstandes" nicht mit den Wissenschaften stehen bleibend, wächst die Kritik des naïven Realismus bei Kant zu einer Kritik des wissenschaftlichen Realismus empor. Ihr muss auch das wissenschaftliche Denken über die Grundprinzipien, mit denen es operiert, Rede und Antwort stehen, und die Wissenschaften, welche mit selbstzufriedener, dogmatischer Sicherheit ihre Wahrheiten als absolute Bestimmungen der Dinge vortragen, werden gemahnt an die Relativität alles menschlichen Wissens. Dieser Standpunkt, welchen wir die anthropologische Relativität nennen möchten, war dem Kern der Sache nach schon bei Protagoras in dem wohlbekannten Satze: „Der Mensch ist das

Mass aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind" zu präzisem Ausdruck gelangt. Die Entwickelung der Philosophie hatte nun längst alle die naïven Vorstellungen und kindlichen Einfälle beseitigt, mit welchen der Anthropologismus des Sophisten noch verknüpft war. Das Prinzip der Relativität, ein ewiger Schatten der Philosophie, wächst und kräftigt sich mit der Philosophie selbst, um sich bei Kant in riesige Dimensionen zu erstrecken. Die Naturerscheinungen sind nach Kant für den Menschen nur in der menschlichen Erkenntnis vorhanden, und diese ietztere ist durch die Beschaffenheit seiner Erkenntnisvermögen bedingt. Andere Wesen würden die Natur anders wahrnehmen als wir, wenn ihre Sinnlichkeit anders geartet wäre als die unsere, würden über die Natur anders denken als wir, wenn ihr Denkvermögen nach Prinzipien die Erscheinungen verknüpfte, welche von den Prinzipien unseres Denkvermögens sich unterscheiden. Wir nehmen die Dinge in Raum und Zeit wahr, weil nun einmal Raum und Zeit die Formen" unserer Sinnlichkeit sind, wir ordnen die Erscheinungen nach Kausalität ein, weil die Kausalität eine „Kategorie" unseres Verstandes ist, wir schaffen die Hypothesen von Gott, Seele, Welt, weil sie notwendige „Ideen" unserer Vernunft sind.

[ocr errors]
[ocr errors]
[ocr errors]

Hand in Hand mit der anthropologischen Relativität geht bei Kant die Unterscheidung von Erscheinung" und Ding an sich", in welcher wir, allerdings in hoher, kritisch gereifter Form, die alte Gegenüberstellung von Wesen“ und „Erscheinung" oder „Schein" wiederfinden. Ebenso wie die anthropologische Relativitätslehre hat auch dieser Dualismus von Wesen und Erscheinung seine Entwickelung, welche in Kant zur Höhe gelangt. Schon in den Anfängen der Philosophie macht sich diese Tendenz zur Spaltung geltend. Sicht man von Thales und Anaximander ab, die vielleicht noch nicht dem Wesen, sondern dem Ursprunge der Dinge nachdachten, so ist es doch schon Anaximenes, welcher gewiss die Ansicht über den Ursprung mit der über das Wesen der Welt verbindet. Für Thales und Anaximander, die im Wasser, respektive im „Apeiron", den Ursprung der Welt erblicken, ist z. B. der Baum seinem Wesen nach vielleicht nicht Wasser, nicht „Apeiron", sondern eben Baum. Für Anaximenes hingegen, der die Luft zur „Arche" nahm, ist der Baum seinem Wesen nach entschieden nicht mehr Baum sondern verdichtete Luft. Das war ein entscheidender Fortschritt in der Ausgestaltung der monistischen Weltanschauung, den bald darauf Pythagoras noch

steigerte, indem er zu der Einheit des Ursprungs und des Wesens noch die des Gesetzes hinzufügte.

[ocr errors]

In diesem Monismus aber, der von nun an in der Entwickelung des philosophischen Denkens vorherrscht, war notwendigerweise sein Gegensatz eingeschlossen: der Dualismus von Wesen und Erscheinung. Die Dinge sind schon nicht mehr, was sie scheinen, sie sind Luft, Zahl, Sein, Urfeuer, Atome, Ideen. Weltgeist, Gott, Wille etc. etc., und endlich erscheint Kants Ding an sich" wie die höchste Sublimierung, wie der logische Abschluss aller dieser Wesenheiten (Substanzen), welche hinter den profanen Dingen stecken sollen. Das „Ding an sich“ ist keine skeptische Vernichtung der metaphysischen Substanz, sondern ihr „logischer Ort", man möchte sagen die transscendentale Rechtfertigung, die von jedem Inhalte befreite Form derselben.

Durch die theoretische Kluft, welche sich bei Kant zwischen Erscheinung und Ding an sich" aufthut, wird nun der anthropologische Relativismus für die uns einzig zugängliche Welt der Erscheinungen bedeutend gemildert und dem Idealismus näher gebracht. Entsteht und besteht die Welt der Erscheinungen aus menschlichen Empfindungen, menschlichen Anschauungs- und Denkformen, so können wir in solcher Welt nichts ausfindig machen, das nicht das Gepräge des Subjektiven, des Idealistischen aufweist.

die einzige im ganzen Ding an sich", welches

Eine Beschränkung des Idealismus Systeme Kants - liegt in der Lehre vom uns aber unzugänglich ist und bleibt. Es kann also nur eine negativ begrenzende, keine positiv bestimmende Macht über den Idealismus ausüben. Der Kantische Kritizismus ist somit in der That reiner Idealismus, der nur die dogmatische Unfehlbarkeit abgestreift hat und infolge dessen die vage Möglichkeit eines andern Standpunktes für die Bestimmung des Wesens der Welt zulassen muss.

Allein diese winzige Konzession wird bald durch die Lehre vom Primat der praktischen Vernunft über die theoretische paralysiert. Theoretisch ist das Ding an sich" ein grosses X, das verschiedene metaphysische Deutungen zulässt. Die menschliche Vernunft ist aber nicht auf theoretischen Gebrauch beschränkt, sie ist noch zu einem praktischen Gebrauch da, der durch ganz andere Prinzipien bestimmt ist als der theoretische, und der keine Erkenntnisse sondern Postulate, Forderungen, hervorbringt. Diese praktischen Postulate, welche die ewigen, unendlichen Aufgaben der menschlichen Natur zu erfüllen

« PreviousContinue »