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Die kritische Transscendentalphilosophie Cohen's, deren Grundzüge wir dargelegt haben, giebt sich nicht als ein eigenes System sondern als eine sinn- wenn auch nicht wortgetreue Wiedergabe Kantischer Gedanken.

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Cohen verhehlt dabei garnicht, dass er sich in manchen wichtigen Punkten vom Meister entfernt; es war ja nicht seine Aufgabe, philologische Philosophiegeschichte zu treiben. Sofern wir die Geschichte der Philosophie nicht als philologische Litterärgeschichte ansehen", sagt er sondern als das Ideal einer Erkenntniss, welches die Philosophie selber mit vollzieht, so stehen wir geschichtlich Kant gegenüber auf einem höheren Standpunkte, als er selbst stand; denn seine Schöpfung ist unsere Bildung. Ihm musste seine Philosophie bei aller Ueberzeugungstreue als die zufällige Wirklichkeit seiner Arbeit dünken; uns dagegen erscheint sie im Lichte ihrer Wahrheit, sofern wir als fremdes Erzeugniss sie nachprüfen“. 1) In diesem Lichte gesehen, erscheint ihm denn das Kantische System als die wissenschaftliche Grundlegung und Sicherung derjenigen philosophischen Richtung, die ihren massgebenden Anfang in der Ideenlehre Platon's und ihre glänzende Fortsetzung in dem Idealismus der Descartes und Leibniz gefunden hat.

Cohen ist sich bewusst, dass seine Auffassung der Kantischen Philosophie der herrschenden Meinung widerspricht, welche in Kant die theoretische Ueberwindung jeder Methaphysik, also auch der idealistischen, erblicken möchte, glaubt aber durch seine Interpre

1) H. C., Kants Th. d. Erf., S. 5-6.

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tation bewiesen zu haben, dass, einige wenige Ausnahmen abgerechnet, Anhänger wie Gegner das Kantische System total missverstanden haben. Besonders die Gegner: die haben Kant nicht verstanden, nicht nur im einzelnen, sondern im Ganzen, in der gesammten Disposition, ja in der Tendenz der Kritik". 1) Wie sehr Cohen's Auffassung von Kant sich von der herrschenden Meinung entfernt, geht neben einigen, schon bei Gelegenheit erwähnten, bewussten und unbewussten Abweichungen hauptsächlich aus seiner Stellung zur Kantischen Auffassung des Ding an sich" hervor. „Das Gerede", sagt er „Kant habe die Erkenntniss zwar auf die der Erscheinungen eingeschränkt, dennoch aber das unerkennbare Ding an sich stehen gelassen, dieses oberflächliche Gerede wird doch nach hundert Jahren endlich einmal verstummen müssen“. 2)

Wäre nun wirklich die Cohensche Darstellung der Lehre Kant's vom Ding an sich, wie wir sie im vorigen Kapitel, im Cohenschen System der Transscendentalphilosophie, dargelegt haben, nichts als eine bessere Auffassung Kantischer Gedanken über den gleichen Gegenstand, so läge das philosophische Hauptverdienst Cohens darin, den in der Geschichte der Philosophie ein volles Jahrhundert grassierenden Irrtum „endlich einmal" aus der Welt geschaft zu haben.

Leider muss dieses Verdienst dadurch erheblich geschmälert werden, dass Cohen es unterlassen hat, sich mit denjenigen Stellen in Kant's Hauptwerken auseinanderzusetzen, aus welchen der Gegensatz zur Cohenschen Auffassung der Noumena klar und unzweideutig hervorgeht. Nach diesen Stellen - und es wird schwierig sein ihnen andere entgegenzuhalten ist das Noumenon nur als problematischer Begriff möglich, d. h. als ein solcher „der keinen Widerspruch enthält. . . . dessen objektive Realität aber auf keine Weise erkannt werden kann". 8) Daher sind die Noumena Kants für die Erkenntnis nur von negativem Wert; sie beschränken dieselbe, aber ein positiver Erkenntniswert objektiver Realität kann ihnen nicht zugeschrieben werden. So sagt Kant wörtlich: „Der Begriff eines Noumenon, d. i. eines Dinges, welches gar nicht als Gegenstand der Sinne, sondern als ein Ding an sich selbst, (lediglich durch einen reinen Verstand) gedacht werden soll, ist gar nicht

1) H. C., Kants Th. d. Erf., S. 221.

ib., S. 518.

3) Kr. d. r. V., S. 235 (Edit. Kehrbach).

widersprechend: denn man kann von der Sinnlichkeit doch nicht behaupten, dass sie die einzig mögliche Art der Anschauung sei. Ferner ist dieser Begriff nothwendig, um die sinnliche Anschauung nicht bis über die Dinge an sich selbst auszudehnen, und also um die objective Gültigkeit der sinnlichen Erkenntniss einzuschränken.... Am Ende aber ist doch die Möglichkeit solcher Noumenorum gar nicht einzusehen, und der Umfang ausser der Sphäre der Erscheinungen ist (für uns) leer, d. i. wir haben einen Verstand der sich problematisch weiter erstreckt, als jene, aber keine Anschauung, ja auch nicht einmal den Begriff von einer möglichen Anschauung, wodurch uns ausser dem Felde der Sinnlichkeit Gegenstände gegeben, und der Verstand über dieselbe hinaus assertorisch gebraucht werden könne. Der Begriff eines Noumenon ist also bloss ein Grenzbegriff, um die Anmassung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur ron negativem Gebrauche. Er ist aber gleichwohl nicht willkürlich erdichtet, sondern hängt mit der Einschränkung der Sinnlichkeit zusammen, ohne doch etwas Positives ausser dem Umfange derselben setzen zu können“. 1)

Nun könnte man freilich im Sinne Cohen's einwenden, dass aus dieser Stelle nur die Unzulässigkeit der Noumena für die wissenschaftliche phänomenale Welt hervorgehe, die an die Anschauung gebunden ist; neben den phänomenalen Objekten gäbe es aber auch andere Gegenstände, die eben nicht sinnliche sind und nicht sinnlich sondern intelligibel erkannt werden. Allein dieser Einwand würde jenen Ausführungen Kant's widersprechen, wonach nichtsinnliche Gegenstände erkenntniskritisch unzulässig sind. „Alles Denken", sagt Kant muss sich, es sei geradezu (directe) oder im Umschweife (indirecte) vermittelst gewisser Merkmale zuletzt auf Anschauungen, mithin, bei uns, auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann." 2) „Die Kritik des reinen Verstandes," sagt er an einer anderen Stelle erlaubt es nicht, sich ein neues Feld von Gegenständen, ausser denen, die ihm als Erscheinungen vorkommen können. zu schaffen und in intelligibele Welten sogar nicht einmal in ihren Begriff auszuschweifen." 3) Noch deutlicher spricht sich Kant in folgender Stelle aus: „Die

1) Kr. d. r. V., S. 235.

) Kr. d. r. V., S. 48. Vergl. Kr. d. Urteilskr., S. 125.
3) Kr. d. r. V., S. 258.

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Eintheilung der Gegenstände in Phaenomena und Noumena und der Welt in eine Sinnen- und Verstandeswelt kann daher (in positiver Bedeutung) gar nicht zugelassen werden, obgleich Begriffe allerdings die Eintheilung in sinnliche und intellectuelle zulassen; denn man kann den letzteren keinen Gegenstand bestimmen, und sie also auch nicht für objectivgültig ausgeben.“ 1)

Wohl werden die aus der theoretischen Philosophie ausgewiesenen Noumena in der praktischen wieder neu zu Ehren gebracht. Allein und darin zeigt sich wieder ein nicht zu unterschätzender Unterschied zwischen Cohen und Kant das Gebiet der praktischen Philosophie, das der Ethik, ist für Kant im Gegensatze zu Cohen kein Gebiet der Erkenntnisse. 2) Die Noumena als praktische Postulate erweitern nach Kant nicht die speculative Erkenntnis. 3)

Die Cohensche Einteilung der Kulturgebiete in phänomenale und noumenale und seine Behauptung, die Dinge an sich seien erkennbar, sind also entschieden unkantisch.

Ebensowenig sind die wichtigsten Ideen: Freiheit, Gott und Zweckmässigkeit im Sinne Kants erfasst.

Die Freiheit ist für Kant theoretisch ein problematischer Begriff.4) Die dritte Antinomie der reinen Vernunft, welche die Idee der Freiheit behandelt, hat keinen anderen Zweck als nachzuweisen, dass diese transscendentale Idee nur dann entschieden verneint werden müsse, wenn man die Naturdinge als Dinge an sich auffasst. Gebe man aber zu, dass sie nur Erscheinungen sind, und zwar Erscheinungen eines uns unzugänglichen Dinges an sich, so könne die Existenz der Freiheit sowohl bejaht als verneint werden. 5) Der Gedankengang ist also hier ein dem Cohenschen strikte entgegengesetzter. Die Erkennbarkeit der Dinge an sich (ihr Zusammenfallen mit den Erscheinungen) wäre die Aufhebung der Freiheit. Ihre Möglichkeit ist an die Unerkennbarkeit des Dinges an sich gebunden. Cohen aber stellt die Freiheit als erkennbares Noumenon hin, und zwar erkennt er ihr einen entschieden teleologischen

1) Kr. d. r. V., S. 235-236. Vergl. auch S. 256, 257, 258.

2) folgt u. a. aus folgender Stelle: «. . . . Gefühle von Lust und Unlust und den Willen, die gar nicht Erkenntnisse sind, .. Kr. d. r. V., S. 71. 3) Kr. d. r. V., S. 158.

) Vergl. Kr. d. r. V., S. 445.

5) Kr. d. r. V., S. 368. ff.

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Charakter zu, während sie doch bei Kant von Kausalität und Zwecksetzung unabhängig, d. h. wirklich frei ist.

Noch weiter weicht Cohen von Kant in dem Punkte der Freiheitslehre ab, wo er behauptet, dass die Freiheit eine transscendentale Idee sei, die ein eigenes Gebiet der Realitäten (das der Ethik) erzeuge und mit den phänomenalen Naturdingen nichts zu schaffen habe. Diese Auffassungsweise muss vom Standpunkte Kant's entschieden abgelehnt werden, denn nach Kant giebt es kein Noumenon der Freiheit für ein besonderes Gebiet, sondern jedes Naturding, sowie jede Naturerscheinung, nicht nur der menschliche Wille, kann als Noumenon, als Ding an sich, zugleich als bedingt und als frei gedacht werden. Die ganze Natur kann sowohl als Naturnotwendigkeit, wie auch als Freiheit aufgefasst werden: frei als intelligibeles Ding an sich, kausal bedingt als Erscheinung. Für Kant besteht eben die Hauptfrage darin „ob Freiheit überall nur möglich sei und ob, wenn sie es ist, sie mit der Allgemeinheit des Naturgesetzes der Causalität zusammen bestehen könne, mithin ob es ein richtig disjunctiver Satz sei: dass eine jede Wirkung in der Welt entweder aus Natur oder aus Freiheit entspringen müsse, oder ob nicht vielmehr Beides in verschiedener Beziehung bei einer und derselben Begebenheit zugleich Statt finden könne. Die Richtigkeit jenes Grundsatzes von dem durchgängigen Zusammenhange aller Begebenheiten der Sinnenwelt nach unwandelbaren Naturgesetzen steht schon als ein Grundsatz der transscendentalen Analytik fest und leidet keinen Abbruch. Es ist also nur die Frage: ob dem ungeachtet in Ansehung eben derselben Wirkung, die nach der Natur bestimmt ist, auch Freiheit Statt finden könne, oder diese durch jene unverletzliche Regel völlig ausgeschlossen sei. . . . Die Wirkung kann also in Ansehung ihrer intelligibelen Ursache als frei und doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Nothwendigkeit der Natur angesehen werden." 1)

Erst auf dieser Möglichkeit jedes Naturdinges frei zu sein, beruht nach Kant die Möglichkeit für den Menschen, auch ein intelligibeler Charakter zu sein, dem Freiheit zukommt. 2)

Der problematische Begriff der Freiheit wird freilich in der Kantischen Ethik zu einem Erkenntnisobjekt, aber nicht unmittelbar,

1) Kr. d. r. V., S. 430-431.

2) Vergl. z. B. Kr. d. pr. V., S. 118–119 u. a. m.

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