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Drittes Kapitel.

Die transscendentale Analyse der Ethik und der Aesthetik.

1.

Einer der wichtigsten Gedanken der Cohenschen Transscendentalphilosophie, mit dem man sich vor allem vertraut machen muss, will man ihren Standpunkt verstehen, ist der, dass das räumlichzeitliche kausalbedingte Dasein nicht die einzige Realität ist, die in den menschlichen Kulturgebieten anzutreffen ist.

Das räumlich-zeitliche, kausalbedingte Dasein ist das Erzeugnis der theoretischen Vernunft, welche doch nur eine Richtung des Bewusstseins ist, eben diejenige, welche dahin abzielt, ihre Erzeugnisse in Form räumlich-zeitlicher kausalbedingter Realität darzustellen. Sie realisiert nur ihr Interesse", nicht aber das Ganze des menschlichen Bewusstseins.

Daneben giebt es andere Interessen des Bewusstseins, welche durch die mechanische Naturwissenschaft nicht befriedigt werden. können.

Schon die Naturbeschreibung unterscheidet sich von der theoretischen Naturwissenschaft; sie bedient sich anderer Hebel" des Bewusstseins als jene, sie produziert andere Gebilde, bekundet ein anderes Interesse an ihren Objekten. Wie wir schon sahen, ist die Zweckmässigkeit einer dieser neuen „Hebel" des Bewusstseins, deren die Naturbeschreibung bedarf, und als ein solcher ist sie ihrer Realität ebenso sicher als die Kausalität der ihrigen. Im organisierten Individuum ist das Verhältnis des Ganzen zu den Teilen und das der Teile zu dem Ganzen nicht nur der Kausalität und Wechselwirkung unterworfen, sondern es ist auch ausserdem ein zweckmässiges oder ein unzweckmässiges.

Doch ist die Realität der Zweckmässigkeit oder Unzweckmässigkeit nicht die gleiche und steckt nicht in den Dingen, wie die Realität von Raum und Zeit, Kategorien, Schemen und Grundsätzen, welche Seiten des Dinges" sind, aus welchen das Ding besteht. Die Realität der Zweckmässigkeit ist vielmehr eine heuristische, das heisst eine solche, an deren Hand die konstitutive Realität jener Formen erforscht wird.

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Ähnlich verhält es sich mit aller Realität, welche die Grundlage der Sittlichkeit ausmacht. Diese ist von anderen als theoretischen Interessen beherrscht; sie will nicht feststellen, was ist, sondern, was sein soll. Die Realität dieser Interessen, die Realität des Sollens zu ermitteln, sie als das eigenste Produkt des Bewusstseins zu erkennen, ist die Aufgabe der Transscendentalphilosophie auf dem Gebiete der wissenschaftlichen Ethik.

Zunächst muss die Eigentümlichkeit des sittlichen Objekts ins Auge gefasst werden: Sein Hauptunterschied von den Objekten des theoretischen Bewusstseins ist der, dass diese in den Naturwissenschaften so gegeben sind, als existierten sie unabhängig von dem Menschen, während die sittlichen Objekte menschliche Handlungen sind, also etwas, was die Existenz des Menschen als notwendige Bedingung voraussetzt. Die sittlichen sind also Objekte „zweiter Hand“ und erst durch den Menschen hervorgebracht. Rechtsverhältnisse, Politik, Wirtschaft und Verkehr sind ohne ihn undenkbar. Die sittliche Erkenntnis ist somit nicht lediglich eine Erkenntnis vom Sein, sondern zum mindesten eine Erkenntnis dessen, was nicht früher ist, als es vom Menschen gemacht wird." 1)

In der Thatsache, dass der Mensch sich zwischen unpersönliches, sittliches Bewusstsein und sittliches Objekt hineinschiebt, liegt die Schwierigkeit, die transscendentalen Elemente der Sittlichkeit rein von aller anthropologischen Beimischung darzustellen. Man kann einen reinen Faktor des Denkens in dieser Wissenschaft und an dem Objekt derselben nicht so einfach rekognoszieren wie in der Naturwissenschaft. Darum muss auch die transscendentale Untersuchung hier besonders auf der Hut sein, um nicht in die anthropologische Vorstellungsweise zu verfallen.

Die der theoretischen analoge Hauptfrage „ob und welche Bedingungen vorhanden sind, in welchen die Evidenz der sittlichen

1) Cohens Einleitung zu Langes G. d. M., S. LII.

Urtheile ihren transscendentalen Ursprung hat", 1) muss selbstverständlich auf Grund der Transscendentalanalyse derjenigen Gesetze beantwortet werden, die das Kulturgebiet der Sittlichkeit beherrschen; geradeso wie die transscendentale Frage in der Naturlehre auf Grund der Analyse der mathematischen und naturwissenschaftlichen Gesetze beantwortet wurde. Es wurde ja die reine Anschauung nur darum als apriori erkannt, weil es eine Wissenschaft der Mathematik giebt, die sich aus feststehenden Sätzen aufbaut, und die synthetischen Grundsätze wurden darum als das oberste, eigentliche apriori des theoretischen Bewusstseins erfasst, weil es Naturgesetze giebt, deren synthetischer und apriorischer Charakter aus ihnen hervorgeht.

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Giebt es aber solche wissenschaftliche Gesetze auch für das Gebiet der Sittlichkeit? Eine feststehende wissenschaftliche Ethik in der Art der mathematischen Naturwissenschaft giebt es nicht. Eine solche schaffen zu wollen, um das Leben und Weben der Gemüther zu beschreiben und in die gleissenden Formeln von Gesetzen zu kleiden", könne keine Aufgabe der transscendentalen Ethik sein; diese ist vielmehr bestrebt „die apriorischen Bestimmungen des praktischen Vernunftgebrauchs festzusetzen." 2)

Es gilt nach dem Gesagten für die transscendentale Begründung der Ethik nicht nur die apriorischen Elemente zu suchen, welche ihre Gesetze ermöglichen, sondern zu allererst müssen die Gesetze selbst entdeckt werden. Somit erwächst der praktischen Philosophie eine Aufgabe, welche der theoretischen erspart blieb. Auf dem Gebiete der Naturwissenschaft hatte der Transscendentalphilosoph bei der Aufsteilung allgemeingültiger und notwendiger Gesetze nicht mitzureden. nahm vielmehr das gegebene Faktum solcher Gesetze hin; hier aber, auf dem Gebiete der Sittlichkeit, wo die Gesetze erst entdeckt werden müssen, darf der Philosoph sich in den wissenschaftlichen Streit einmischen und diejenigen Hypothesen abweisen, welche der gestellten Aufgabe nicht entsprechen können.

Da muss nun nach Cohen zuerst die naturwissenschaftliche Richtung in der Ethik abgewiesen werden; in Spinoza, welcher die menschliche Praxis wie Linien und Flächen behandeln wollte, hatte diese Richtung ihren Höhepunkt. Solcher Auffassungsweise liegen zwei Irrtümer zu Grunde: nämlich der, dass der Mensch nur als

1) H. C., Kants Begründung der Ethik (1877), S. 133.

2) ib., S. 121.

Naturwesen und nicht auch als vernünftiges, Ziele setzendes angesehen wird, und der, dass man ihn als psychologischen Gesetzen unterworfenes Einzelwesen auffasst, anstatt ihn zur Menschheit in Beziehung zu setzen.

Cohen macht dagegen geltend, dass der Mensch als Object der Ethik nicht nur nicht Naturwesen, sondern überhaupt nicht Einzelwesen, also von vornherein ein Abstractum ist. dessen Concretion die Gesammtheit, die Gemeinschaft der Menschen bildet." die sich in der menschlichen Geschichte manifestiert. Es bleibt also nichts anderes übrig, als dass die Ethik ihren Blick auf das Getriebe und Gewirre der Geschichte richtet: ob sich in ihm ein Faktor des Denkens, ein Princip der Weltgeschichte entdecken lasse." 1)

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Nimmt man nun aber die Geschichte der Menscheit als Ausgangspunkt der transscendentalen Analyse des praktischsen Vernunftgebrauchs, so läuft man Gefahr, die Ethik auf Religion zu basieren, denn geschichtlich sind die ethischen Gedanken und Gesetze ein Erzeugnis der Religion.) Diese Thatsache könnte dazu verleiten, die transscendentalen Elemente des sittlichen Bewusstseins aus der Religion, wo sie zeitlich zuerst auftauchten, abzuleiten, wie diejenigen des theoretischen Vernunftgebrauchs aus der Naturwissenschaft, wo sie zuerst auftraten. Auch Kant verfiel diesem Irrtum, vermengte die Ethik mit der Religion. Es geschah aus Pietät für die geschichtlich gewordenen Religionsformen, eine Pietät, welche, an sich edel und anerkennenswert, in wissenschaftlichen Dingen eher schaden als nützen kann. Die Pietät vor dem Historischen bildet für die Freiheit der wissenschaftlichen Ethik eine Gefahr, insofern sie zu confessioneller Enge und dadurch zum Religionsfanatismus führen kann.... Jede Absonderung eines literarischen Dokuments und einer geschichtlichen Persönlichkeit von dem allgemeinen Interesse der Weltliteratur und dem allgemeinen Gesetz der Weltgeschichte ist Mythologie, und führt fast unvermeidlich zu befangener Auffassung fremder Religionsquellen, damit aber zu Hass und Scheelsucht." 3)

Sind die ethischen Erscheinungen solche, die zu allererst vom Menschen hervorgebracht werden müssen, so muss die ihnen zu Grunde liegende Gesetzmässigkeit eine vom Menschen selbst ausgehende sein. Das Sittengesetz setzt nicht nur den Menschen voraus, es setzt den

1) Cohens Einleitung zu Langes G. d. M., S. LII.

2) ib., S. LVI.

3) ib., S. LVII.

Menschen als Gesetzgeber voraus. Deshalb kann es weder Naturgesetz noch Gesetz eines Gottes sein. Der Geltungswerth des Sittengesetzes ist dadurch bedingt, dass der irrende, sündige Menschengeist selbst es zu erschaffen und vor der letzten Instanz der Menschenvernunft zu verantworten habe.“1)

In dieser Erkenntnis liegt das Neue, das Kant auf dem Gebiete der Ethik geschaffen hat. „Diese Mündigkeit und Selbständigkeit, welche der Ethik hierdurch als einer Erkenntnissweise zugesprochen wurde, bedeutete eine doppelte Unabhängigkeitserklärung: erstlich von dem Materialismus des l'homme machine und was mit ihm zusammenhängt. Die Ethik, als reine Erkenntniss ist nicht Anthropologie und zoologische Psychologie, und auch nicht Moralstatistik, wenngleich man freilich aus allen jenen Erhebungen viel Wichtiges und Nöthiges für die bête noire des Menschen zu lernen hat. Zweitens aber wurde die Ethik als Wissenschaft principiell und methodisch damit losgesprochen von der geistigen Unfreiheit gegenüber Religion und Theologie." 2)

Ein weiterer, streng zu vermeidender Fehler in der wissenschaftlichen Ethik besteht darin, dass man das ethische Gesetz in irgend einem materiell bestimmten Zwecke erblickt, der alles Sollen zu beherrschen hätte und aus den Prinzipien des anzustrebenden Guten und des zu vermeidenden Bösen bestünde. Der Begriff des Guten und Bösen kann nicht dem Moralgesetze zu Grunde gelegt werden, sondern muss vielmehr erst aus diesem hervorgehen. 3)

Die Zugrundelegung von Gut und Böse, wie die irgend einer materiellen Bestimmung des Sollens bedeutet in letzter Linie die eudämonistische Zugrundelegung des Gefühls der Lust und Unlust. 4) Dieses sei gleichbedeutend mit der empirischen Begründung der Moral) und könne uns keineswegs zu wissenschaftlicher Gewissheit führen. Das Kriterium, welches der Eudämonismus zu seinem Prinzip macht, entspreche eben seinem „Mangel an Einsicht, an Interesse für die Gewissheit.“ „Das Subjectivste des Subjectiven“, sagt Cohen „der Reactionslaut vorübergehender Reize, die den

Cohens Einleitung zu Langes G. d. M., S. LIV.

2) ib., S. LIV.

3) H. C., Kants Begr. d. Ethik, S. 168.

') ib., S. 170.

5) ib., S. 171.

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