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Zweites Kapitel.

Die transscendentale Analyse der Naturwissenschaften.

1.

Das Kulturgebiet der Wissenschaft, in welchem sich das eigentliche Wissen vom Sein, im Unterschiede vom moralischen Erkennen des Sollens und vom ästhetischen Gefallen am Sein und am Sollen realisiert, ist das Gebiet der Erfahrung. Erfahrung darf hier nicht in dem Sinne einer „experientia mater studiorum" aufgefasst werden, Erfahrung ist vielmehr der „Gesammt-Ausdruck" für alle Fakta und Methoden wissenschaftlicher Erkenntnis, Ethik und Aesthetik ausgeschlossen; und an diese Fakta und Methoden hat „die philosophische Frage" nach der Möglichkeit apriorischer Erkenntnis zu ergehen. ')

Die Erfahrungslehre zerfällt in die Untersuchung der theoretischen Naturlehre und der beschreibenden Naturgeschichte.

Die Naturlehre ist mathematische Naturwissenschaft im Sinne Newtons, und hauptsächlich auf ihrem Gebiete. liegt das Problem der naturwissenschaftlichen Erkenntnis apriori. Wenn Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft die Mathematik losgetrennt von der Naturwissenschaft untersuchte, so sei dies nur aus Rücksicht auf die Exposition des Materials, nicht aber aus den sachlichen Zielen des Verfassers zu erklären. Mathematik ohne Naturwissenschaft transscendental zu analysieren, könnte nicht die Absicht der Kr. d. r. V. sein, deren letztes Ziel ja darin bestanden habe, die apriorischen Elemente der mathematischen Naturwissenschaft aufzudecken und ihre Bedeutung für das Zustandekommen der Erfahrung zu charakterisieren.

1) H. C., Kants Th. d. Erf., S. 59.

Das eigentlichst apriorische Element der mathematischen Naturwissenschaften seien nun aber die von Kant aufgedeckten synthetischen Grundsätze, vor allem die Analogien der Erfahrung.') Raum, Zeit und Kategorien haben nur insofern Bedeutung für die transscendentale. Kritik, als sie den Aufbau dieser Grundsätze ermöglichen, welche ihrerseits wiederum die drei Bewegungsgesetze Newtons begründen.

Bemerkenswerterweise unterlässt es Cohen, die drei Bewegungsgesetze Newtons, auf welche jede Bewegung in der Natur zurückgeführt werden muss, wenn sie wissenschaftlich erklärt werden soll, den drei Analogien der Erfahrung Kants gegenüberzustellen. Wir schalten hier diese Gegenüberstellung ein um den Gedankengang zu beleuchten.

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Cohen konstatiert nun als gemeinsame Elemente: Zu 1, den Begriff der Beharrung; zu 2, das Verhältnis von Ursache und Wirkung;

1) H. C., Kants Begr. d. Äesth., S. 106: Die synthetischen Grundsätze sind das eigentliche apriori. «

2) Nach der zweiten Auflage der Kr. d. r. V., welche Cohen stets der ersten vorzieht. (Wir bedienen uns der Edition Kehrbach.) S. 175, 180 u. 196.

zu 3, die Gemeinschaft oder Wechselwirkung; und so erweisen sich ihm die Analogien der Erfahrung Kants als die formalen Grundlagen der Bewegungsgesetze Newtons, welche durch jene erst ermöglicht werden. So muss z. B. als unbedingt geltend vorausgesetzt werden, dass die Veränderungen überhaupt nach dem Gesetz der Verknüpfung von Ursache und Wirkung geschehen, bevor wissenschaftlich ausgemacht werden könne in welcher Weise in der Mechanik die Wirkung auf eine Ursache erfolgt.

Sobald es sich nun ergiebt, dass die Analogien der Erfahrung synthetische Urteile apriori, d. h. solche Urteile sind, welche von der Erfahrung etwas aussagen, deren allgemeine und notwendige Geltung aber nicht aus der Erfahrung herstammt, so wäre die transscendentale Aufgabe in der Naturlehre durchgeführt.) Durchgeführt desshalb, weil die Zurückführung aller Naturerscheinungen auf Bewegung das Ideal der Naturwissenschaft ist, weil die Bewegung den Grundgesetzen Newtons gehorcht und diese Grundsätze die transscendentalen Analogien der Erfahrung voraussetzen.

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Weil die von Kant aufgedeckten synthetischen Grundsätze es sind, welche den Wissenschaften apodiktische Geltung verschaffen, muss es nunmehr die Aufgabe der transscendentalen Untersuchung sein, alle apriorischen Elemente aufzudecken, welche in den Grundsätzen, besonders in den Analogien der Erfahrung wirksam sind.

In Verfolgung dieser Aufgabe beschreitet Cohen nicht den analytischen Weg von den Analogien hinab zu den Formen der

1) Unter synthetischen Urteilen versteht Cohen solche, welche von Gegenständen der Erfahrung ausgesagt werden. Jede Erfahrung setzt aber Anschauung voraus. Ein synthetisches Urteil ist also ein solches, das Anschauung voraussetzt, ein analytisches dagegen eines, dem kein Gegenstand der Anschauung entspricht. Cohen giebt selbst zu, dass seine Definition sich nicht mit dem Wortlaute derjenigen Kants vertrage, glaubt aber den Sinn und die Absicht der Definition Kants richtig getroffen zu haben. Cohens Definition lautet: Synthetische Urteile sind solche, in welchen die synthetische Einheit der Apperception Subject und Prädicat zur objectiven Gültigkeit eines Gegenstandes der Erfahrung verknüpft.. Siehe H. C., Kants Th. d. Erf., S. 395/96 und vergl. H. C., Kants Begr. d. Ästh., S. 105.

Sinnlichkeit, sondern, der Einteilung der Kr. d. r. V. nachgehend, nimmt er den Weg aufwärts von den Formen zu den Analogien, indem er überall auf die Bedeutung der apriorischen Elemente für die Grundsätze, besonders für die Analogien hinweist, in welch letztere für ihn auch die Axiome der Anschauung und die Antizipationen der Wahrnehmung aufgehen.

Leider ist die Darstellungsweise Cohens, wie es schon seither seine Kritiker hervorgehoben, keineswegs systematisch und geraden Weges auf das Ziel gerichtet. In weiten Spiralen und unter zahlreichen polemischen, apologetischen und philosophiegeschichtlichen Abschweifungen bewegt sie sich voran, und erst nach Kenntnis und Überblick des Ganzen kann man die Wichtigkeit der einen und andern Einzelheit verstehen. Ohne uns nun auf die oft interessanten, eingeflochtenen Nebenerörterungen einzulassen, wollen wir den Hauptnerv der Erfahrungslehre im Folgenden charakterisieren.

Analisiert man irgend einen, einerlei welchen, der synthetischen Grundsätze Kants, so zeigt sich, dass derselbe die Synthese zweier Erkenntnisweisen, der Anschauung und des Denkens, bildet. Hierin also sind die Grundrichtungen des theoretischen Bewusstseins zu erblicken, deren Zusammenwirken erst die Erfahrung ausmacht, und mit dieser Einsicht hat sich Kant vollständig von der alten, den Erkenntniswert der Anschauung verkennenden Metaphysik losgesagt; von ihm ist die Anschauung als eine besondere, notwendige Erkenntnisrichtung des Bewusstseins erkannt worden, welche dem Denken vollkommen ebenwertig und gleichberechtigt ist.') Erzeugnisse der Anschauung sind Raum und Zeit, und diese sind nicht als psychologische Einheiten, sondern als reine erkenntnistheoretische Bedingungen der Erfahrung aufzufassen. 2)

Die erkenntnistheoretische Leistung des Raumes besteht darin, dass er das Prinzip oder Mittel zur Ordnung der Empfindungen darbietet. „In dieser Ordnungs-Vorstellung", sagt Cohen „ist das wissenschaftliche Mittel gegeben, das Mannichfaltige, die Materie, den Empfindungs-Charakter der Anschauung, zur geometrischen Anschauung zu reinigen." 3) Aus der reinen Anschauung des einen unendlichen Raumes gestaltet sich die ganze Fülle geometrischer Figuren, eine ganze Welt von Räumen, die nun wiederum ihr Ordnungsprinzip

1) H. C., Kants Th. d. Erf., S. 167. Vergl. 173.

2) H. C., Kants Begr. d. Ethik, S. 156.

3) H. C., Kants Th. d. Erf., S. 158.

in der reinen Anschauungsform haben. Der Raum ist eine Grundbedingung aller naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Die Farben sind für die Physik nichts als räumliche Ätherschwingungen, d. h. in ihnen haben sie ihren objektiven Grund, und insofern die Farben, wie alle Empfindungen überhaupt, wissenschaftlich interessant sind, sind sie das nur dank den Raum- und Zeitgebilden, welche sie repräsentieren, sie haben eben ihre objektive Realität nur von Raum und Zeit. Aus Raum und Zeit, den Formen der Sinnlichkeit, fliesst alle Räumlichkeit und Zeitlichkeit, und sie erteilen aus sich den räumlichen und zeitlichen Dingen die von ihnen, den Formen, ausgehende Gesetzmässigkeit, welche in den Wissenschaften, der Geometrie, Arithmetik und Dynamik auftritt. 1) Der Inhalt dieser Gesetzlichkeit könnte dürftig erscheinen, weil er nur in dem Beisammen" und Nacheinander" als den Ordnungsprinzipien und unüberschreitbaren Grenzen aller Naturerscheinungen besteht, und er wäre, alleinstehend, dürftig in der That. Kämen die Kategorien nicht hinzu, so könnten aus der vagen Anschauung des Beisammen und des Nacheinander keine bestimmten Raumgebilde, keine abgegrenzten Zeitgrössen hervorwachsen. Die eigenste Urthat der Anschauung und der Ausdruck der sie charakterisierenden Gesetzmässigkeit bleiben aber Beisammen und Nacheinander, als die Gesetze der Einordnung eben dieser aus dem Zusammenwirken von Anschauung und Denken hervorgehenden bestimmten und begrenzten Raumgebilde und Zeitgrössen.

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Wie die Anschauung, so hat auch das Denken, entsprechend der von ihm dargestellten Bewusstseinsrichtung, eine es charakterisierende apriorische Gesetzmässigkeit der Synthese, welche, wie jede Synthese, eine Art und Weise der Verknüpfung des Mannigfaltigen zur Einheit im Bewusstsein ist und ihrerseits einen Beitrag zur Konstituierung der mathematischen Naturwissenschaft bedeutet; ganz so wie die Gesetzmässigkeit der Anschauung. Es wird ja in der Naturwissenschaft nicht nur mit Mathematik, sondern auch mit Logik operiert, und ihre Sätze sind Urteilsarten, Gebilde logischen Denkens.

Wie nun die sinnliche Erkenntnis durch die ihr zu Grunde liegenden apriorischen Formen charakterisiert ist, so liegen auch den Urteilsarten apriorische Elemente zu Grunde, welche ihre Art und Weise der synthetischen Verknüpfung gesetzmässig charakterisieren. Es

1) H. C., Kants Th. d. Erf., S. 211.

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