Page images
PDF
EPUB

Werthmesser der wissenschaftlichen Erfahrung nachweisen." Zu diesem Zwecke braucht sie aber nicht die psychischen Prozesse alles Denkens, samt dem Denken der Tiere, der Wilden, der Kinder und der Idioten zu analysieren. Ihr Material ist in den Axiomen uud den allgemeinen Gesetzen der Wissenschaften niedergelegt, und nur aus diesem Material können diejenigen Eigentümlichkeiten des wissenschaftlichen Bewusstseins erkannt werden, die ein absolut sicheres Wissen hervorgebracht haben. Die transscendentale Untersuchung soll darum diese Axiome und obersten Gesetze der Wissenschaft weder als Ergebnisse rein empirischer Beobachtung, noch als zufälliges Resultat psychischer Kompositionen, sondern als die Grundsäulen in der Verfassung unseres wissenschaftlichen Bewusstseins" 1) erkennen.

Das notwendige Thun der Vernunft", wie Fichte sich ausdrückt, das muss erlauscht werden, um die Thatsache der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit ihrer Ergebnisse zu erklären, und das ist der eigentliche Sinn der apriorischen Erkenntnis, nach der Kant forschte. Obwohl Kant den Ausdruck „apriorische Erkenntnis" vielfach mit dem Ausdruck allgemein gültige und streng notwendige Erkenntnis" identifiziert, ist bei Cohen die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit noch nicht das innere Kriterium der apriorischen Erkenntnis, sondern nur ein äusseres Wertzeichen derselben. Bei der blossen Thatsache der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit könne man nicht stehen bleiben, dann blieben ja die Fragen ungelöst : Woher nimmt die Vernunft solche allgemeingültige und notwendige Erkenntnis? Welche Erkenntnisse können allgemeingültig und notwendig sein? Aus welcher Eigentümlichkeit des wissenschaftlichen Bewusstseins sind sie zu erklären? *)

Erst wenn wir feststellen, dass das Notwendige herstammt aus dem „Eigenen, das wir in die Dinge legen," erst wenn wir erfahren, dass die psychischen Einheiten, in welchen dieses Eigene" besteht, nicht nur psychische Einheiten, sondern zugleich erkenntniskritische Bedingungen für die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind, erst dann begreifen wir die Thatsache der allgemeingültigen und notwendigen Urteile als einen Ausfluss des „notwendigen Thuns der Vernunft." Wir müssen aber bei der Beurteilung dieses Hervorfliessens aus den erkenntniskritischen Grundlagen unseres wissenschaftlichen Bewusstseins den metaphysischen Fehler vermeiden, 1) H. C., Kants Th. d. Erf., S. 198.

2) Vergl. H. C., Kants Th. d. Erf., S. 99.

dem fast alle Kantianer, namentlich aber Fichte und Fr. Alb. Lange verfallen sind. Diese stellen sich das Bewusstsein entweder als eine metaphysische Substanz, die mit gewissen Eigenschaften ausgestattet ist (Fichte), oder als eine „psycho-physische Organisation" vor, deren Funktionen in dem notwendigen Thun der Vernunft zum Vorschein kommen (Lange).

In der Lange-Fichteschen Auffassung giebt es also noch gewisse metaphysische oder psycho-physiologische „Einheiten", aus welchen erst die besonderen Vereinigungsweisen hervorgehen, mittels deren diese Einheiten das wissenschaftliche Material zu apriorischen Sätzen verarbeiten. Die Existenz solcher Einheiten ist aber nur eine Hypothese. Wir finden in der Wissenschaft weder metaphysische noch psychische Wesenheiten sondern eben nur die besonderen Arten und Weisen der wissenschaftlichen Synthesen. Diese Unterscheidung, welche Cohen zwischen Einheiten der Psyche (oder metaphysischen) und Vereinigungsweisen des wissenschaftlichen Bewusstseins macht, ist von grundlegender Wichtigkeit; sie soll mit einem Schlage dem berühmten Streit über das Angeborensein der apriorischen Elemente jede Bedeutung nehmen, weil die hinter der Vorstellung des Angeborenseins lauernde, unkritische Vorstellung eines Wesens, welchem die apriorischen Elemente angeboren sind, ausgeschlossen ist. 1)

Um nun den Sinn der transscendentalen Untersuchung rein zu erhalten, müsse man sich zunächst jeder metaphysischen Deutung entschlagen: Das Apriorische besteht für die Erfahrung einfach in denjenigen gesetzmässigen Erzeugnissen des Denkens, ohne welche die Erfahrung selbst unmöglich wäre; ebenso suchen wir für die Gesetzmässigkeit der moralischen Erkenntnis und des ästhetischen Gefallens keine Wurzeln und Fasern im „Geiste," sondern wir suchen nur aus den gegebenen notwendigen Bestandteilen der sittlichen und künstlerischen Schöpfungen das herauszukrystallisieren, was als das Gesetzmässige auf diesen Gebieten notwendig gedacht werden muss. 2) Ein apriorisches Element der Erkenntnis wird also entdeckt, wenn sich durch transscendentale Analyse eine Thätigkeitsweise des Bewusstseins ergiebt, „von welcher das Erkennen schlechterdings nicht

1) H. C., Kants Th. d. Erf., S. 255: Nicht die Einheit, sondern die Vereinigung gilt als apriori. Daher kümmert uns gar nicht, ob angeboren oder nicht..

2) Vergl. H. C., Kants Th. d. Erf., S 584.

ablassen könnte, ohne unsere wissenschaftliche Erfahrung zu zerstören." „Eine solche That des Geistes, eine solche Art des wissenschaftlichen Bewusstseins" ist demgemäss als die allem Erkennen zu Grunde liegende, als die allgemeingültige und streng nothwendige Voraussetzung alles wissenschaftlichen Erkennens zu betrachten.") Mit andern Worten: „Solche Elemente seien Elemente des erkennenden Bewusstseins, welche hinreichend und nothwendig sind, das Factum der Wissenschaft zu begründen und zu festigen. Die Bestimmtheit der apriorischen Elemente richtet sich also nach dieser ihrer Beziehung und Competenz für die durch sie zu begründenden Thatsachen der wissenschaftlichen Erkenntniss.")

Die transscendentale Kritik will die Erkenntnisart und den Erkenntniswert der wissenschaftlichen Methoden und Ergebnisse feststellen. Handelt es sich z. B. darum, ob eine bestimmte Erkenntnis aus der Anschauung hervorgeht oder aus dem Denken, ob sie theoretische Erkenntnis ist oder praktische, dann richten wir die Frage nach der Erkenntnisart. Anders ist es, wenn wir unser Interesse abstellen auf den Wert, welcher dieser bestimmten Erkenntnisart für das Zustandekommen der Wissenschaft zukommt. Wir untersuchen dann eben den Erkenntniswert; und ist auch noch die erste Untersuchung mit der psychologischen Analyse eng verknüpft, so ist doch die zweite frei von jedem Beigeschmack anthropologischer Zuthaten und rein erkenntnistheoretisch.

Der Erkenntniswert der apriorischen Elemente liegt nun in ihrer Leistung für Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst, und die Frage nach dem Erkenntniswert ist die Frage nach dieser Leistung.

Die Antwort umfasst die ganze Philosophie Cohens, sein System des transscendentalen Idealismus: Soll nun wirklich gezeigt werden, dass alles Kulturelle aus dem Bewusstsein der Menschheit und nur aus diesem stamme, so muss die transscendentale Methode darthun, dass sogar die Gegenstände der wissenschaftlichen Erfahrung, der moralischen Erkenntnis, des ästhetischen Geschmackes, die Objekte aller menschlichen Kultur in letzter Linie von den apriorischen

1) H. C., Kants Th. d. Erf., S. 102.

2) ib., S. 77. Anschliessend heisst es weiter: « Findet man z. B, dass der Begriff des Systems für die Wissenschaft nothwendig, für dieselbe constitutiv sei, so wird es nothwendig sein, ein Element des Bewusstseins ausfindig zu machen, welches in seiner Allgemeinheit diesem Merkmal der Wissenschaft entspricht..

Elementen des Bewusstseins erzeugt werden. Dieses ist die letzte Bedeutung des Transscendentalen, das „Correctiv" zum blossen apriori. Psychische Vorgänge der inneren Erfahrung, wie z. B. Grössen, Körper, Kraft, kausale Beziehung, sittliches Gesetz u. s. w. werden durch die allgemeinen Gesetze objektiviert zu Gegenständen der Wissenschaft. So konstruiert die Anschauung diejenigen räumlichen Figuren, welche die wissenschaftliche Realität der Geometrie ausmachen, so erzeugt das Denken jene Realitäten, mit welchen der Mechaniker und Physiker operiert, so bestimmt das moralische Bewusstsein selbst das Gesetz, welchem das Reich der Sittlichkeit unterworfen ist, und genau so sind die Gegenstände des ästhetischen Gefallens in letzter Linie Produkte des ästhetischen Bewusstseins. Das Transscendentale wäre also dasjenige Subjektive, das sich in der Kultur als das eminent Objektive zeigt, und der Inhalt der Kultur, wenigstens seinen Grundlagen nach, ein Ausfluss der transscendentalen Formen des Bewusstseins. So sagt Cohen bei der Untersuchung des Raumes, dass es gar keine höhere, gesichertere Objectivität" gäbe als die in der formalen Beschaffenheit der subjectiven Sinnlichkeit erkannte Apriorität der Anschauung. Mit ihr allein construirt der Geometer den Triangel, mit dem der Physiker die Natur ausmisst; von ihr lernen wir, dass wir nur das apriori von den Dingen erkennen, was wir selbst in sie legen". Nur dasjenige ist objectiv, was die apriorische Subjectivität hervorbringt“, construirt.“ 1)

[ocr errors]
[ocr errors]

In dieser Bedeutung des Transscendentalen kommt der Idealismus zu voller Geltung. Man sieht klar: nicht das Bewusstsein richtet sich nach den Gegenständen, sondern die Gegenstände selbst, insofern sie Gegenstände der wissenschaftlichen Erfahrung, der moralischen Erkenntnis, des ästhetischen Gefallens sind, sind nichts anderes als Erzeugnisse „unseres" Bewusstseins, d. h. des Bewusstseins derjenigen Helden der Menschheit", welche Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst geschaffen haben. *)

Fassen wir jetzt die Gedanken Cohens über die Bedeutung des Transscendentalen kurz zusammen, so ergeben sich folgende drei einander ergänzende und fördernde Hauptgesichtspunkte:

1) H. C., Kants Th. d. Erf., S. 170.

2) Vergl. H. C., Kants Begr. d. Aesth., S. 104.

1. Das Transscendentale ist das letzte, wenn auch komplizierte Element der psychischen Analyse, welches, wie z. B. Raum, Zeit, Kausalität u. s. w. nur durch sehr gewagte Deuteleien auf einfachere Elemente zurückgeführt werden könnte, und welches daher als metaphysisches apriori betrachtet werden muss.

2. Das Transscendentale ist der Quell, aus dem die bestimmte Erkenntnisrichtung oder Erkenntnisart hervorfliesst, welche die eigene Gesetzmässigkeit oder „Gesetzlichkeit", wie Cohen sich ausdrückt, in sich trägt.

3. Das Transscendentale ist das formale Element der Kulturgebiete, welches die Objekte der Kulturgebiete konstituiert und realisiert. Die Aufgabe der Transscendentalphilosophie ist es also diese Realität erzeugenden Elemente des Bewusstseins mittels einer Analyse der Kulturgebiete rein zu erfassen und sie zu einem Systeme zu verbinden.

Zu der Grundlage des Systems, zur Transscendentalanalyse der Naturwissenschaft, Ethik und Aesthetik wenden wir uns in den beiden folgenden Kapiteln.

« PreviousContinue »